Das Problem der Besetzung Österreichs

Ein Memorandum von Richard Coudenhove-Kalergi
aus dem Jahr 1950

Österreich, das erste Opfer des Angriffes, der Invasion und der Besetzung der Nazis, wurde im Frühjahr 1945 durch die siegreichen Armeen der Alliierten befreit.

Die Besetzung Österreichs durch diese Befreiungsstreitkräfte war die natürliche Folge der strategischen und politischen Situation Europas während der Zeit der Liquidation des Krieges und des Nazismus.

Diese Periode ging zu Ende, als die befreite Tschechoslowakei von den amerikanischen und russischen Streitkräften evakuiert wurde.

Die Verlängerung der Besetzung Österreichs wurde anstoßerregend, da die Besetzung von Italien, Deutschlands wichtigstem europäischen Verbündeten, beendet worden war.

Gegenwärtig ist Österreich immer noch durch fremde Armeen besetzt und so an der Ausübung seiner vollen Souveränität verhindert: Österreich, das eine souveräne und demokratische Republik ist, die niemals im Kriege war gegen irgendeine der Vereinigten Nationen; Österreich, das niemals ein Satellit oder Verbündeter Deutschlands war, das schon ganz am Anfang des Dritten Reiches, im Jahre 1933, Europas Pionier in seinem Kampfe gegen Hitler war.

Da während fünf Jahren alle Versuche, diese paradoxe Situation durch politische Verhandlungen zu beenden, gescheitert sind, ist der Augenblick gekommen, den rechtlichen Aspekt dieses Problems dem Weltgerichtshof zu unterbreiten.

Die Erklärung von Moskau

Das einzige Dokument, auf welchem die verlängerte Besetzung Österreichs beruht, ist die folgende Abmachung, welche in Moskau durch die Aussen­minister von Gross-Britannien, den Vereinigten Staaten und der Sowjet-Union am 1. November 1943 unterzeichnet wurde.

„Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjet-Union und der Vereinigten Staaten von Amerika sind übereingekommen, dass Österreich, das erste freie Land, das dem Hitler-Angriff zum Opfer fiel, von der deutschen Herrschaft befreit werden soll.

Sie betrachten den Österreich durch Deutschland am 15. März 1938 aufgezwungenen Anschluss als null und nichtig. Sie betrachten sich selber als in keiner Weise gebunden durch irgendwelche Änderungen, die seither in Österreich durchgeführt worden sind. Sie erklären, dass sie die Wieder­errichtung eines freien und unabhängigen Österreich wollen, um so den Weg für das österreichische Volk selbst und für seine Nachbarstaaten, die sich vor ähnliche Probleme gestellt sehen, frei zu machen, um die politische und wirtschaftliche Sicherheit zu finden, die die einzige Grundlage für dauernden  Frieden ist.

Österreich wird aber daran erinnert, dass es eine Verantwortung zu tragen hat, der es nicht entgehen kann, und zwar wegen seiner Beteiligung am Kriege an der Seite von Hitler-Deutschland, und dass in der endgültigen Regelung unvermeidlicherweise Österreichs eigenem Beitrag zu seiner Befreiung Rechnung getragen wird.”

Dieses Dokument erinnert Österreich an seine Verantwortlichkeit „für seine Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands”. Da Österreich in dieser Zeit keinerlei Regierung hatte, war es nicht in der Lage, diese einseitige Abmachung dreier Aussenminister anzufechten – eine Abmachung, die niemals von irgendeiner internationalen Instanz gegengezeichnet wurde.

Österreich ist nicht verantwortlich

In Tat und Wahrheit kann die Österreichische Republik nicht verantwortlich gemacht werden für irgendeinen Akt, der zu einer Zeit vorgenommen wurde, als sie gar nicht existierte. Dies war der Fall von Frühjahr 1938 bis zum Frühjahr 1945.

Während dieser Zeit war Österreich von der Landkarte Europas durch seine Nazi-Eroberer ausgelöscht. Da das Dritte Reich eine Diktatur war, bestanden in Österreich nicht einmal örtliche demokratische Behörden.

Die plötzliche deutsche Invasion, die vom Menschenraub an den politischen Führern Österreichs begleitet war, verhinderte die Aufstellung irgendeiner Österreichischen Exilregierung. So teilte Österreich das Schicksal von Dänemark, das auch ein von den Nazis besetzter Staat ohne Exil-Regierung war.

Während dieser Jahre wurden mehr als 100.000 Österreichische Anti-Nazi ins Gefängnis geworfen, gefoltert oder hingerichtet.

Die österreichischen Soldaten wurden in Hitlers Armeen hineingezwungen, genauso wie die Soldaten von Luxemburg, der Slowakei, von Kroatien und von anderen Gebieten, die den Vereinigten Nationen angehören.

Österreichische Quislinge wurden von der Deutschen Regierung benutzt, um ihre rechtdenkenden Landsleute zu unterdrücken und alle Versuche eines österreichischen Widerstandes zu bekämpfen.

Österreich kann für die verbrecherischen Handlungen seiner Quislinge nicht verantwortlich gemacht werden, und zwar genau so wenig wie irgend einer der anderen von den Nazi besetzten Staaten verantwortlich gemacht worden ist für individuelle Akte solcher Quislinge.

Der Weltgerichtshof ist zuständig

Da Österreich immer die Folgerungen der Erklärung von Moskau bezüglich seiner Kriegsschuld bestritten hat, steht es dem Weltgerichtshof zu, sich auszusprechen über die folgenden Rechtsprobleme, die durch die Besetzung Österreichs gestellt werden.

Kann ein Staat für Taten verantwortlich erklärt werden, welche begangen wurden, während er aller Hoheitsrechte und politischen Behörden beraubt war?

Kann die Österreichische Republik verantwortlich gemacht werden für Kriegs­handlungen, welche durch die deutsche Regierung oder durch öster­rei­chi­sche Quislinge begangen worden sind?

Kann ein souveräner Staat, der sich nicht im Kriegszustand befindet, durch die Drohung einer verlängerten militärischen Besetzung dazu gezwungen werden, finanzielle Verpflichtungen auf sich zu nehmen?

Gibt es irgendeine Rechtsgrundlage für die Fortsetzung der gegenwärtigen Besetzung der Österreichischen Republik durch fremde Armeen?

Im Interesse des Weltfriedens und der Achtung vor dem Völkerrecht müssen diese vier Fragen beantwortet werden.

Österreich wird sicherlich keinen Versuch machen, sich irgendeiner seiner Verantwortlichkeiten zu entziehen, welche durch eine internationale Behörde, wie es der Weltgerichtshof ist, festgestellt worden sind.

Deshalb muss das Rechtsproblem der Verantwortlichkeit Österreichs, in Verbindung mit seiner gegenwärtigen Besetzung, dem Weltgerichtshof durch die Versammlung der Vereinigten Nationen – entsprechend den Vorschriften der Charta der Vereinigten Nationen – unterbreitet werden.

Graf Richard Coudenhove-Kalergi, 510 Park Avenue, New York City.